Alice Weigelt, geb. Hofmann, 1925-2008
In memoriam

Unsere beste langjährige Freundin, Alice Weigelt,wohnhaft in Leipzig, ist in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 2008 gestorben. Ausser dem Mops Rosa, der sie 15 Jahre lang begleitete und erfreute, war niemand zugegen. Alice, von vielen Ali genannt,war eine der unglaublichen Personen, welche die 3 Phasen der  jüngsten deutschen Geschichte miterlebten: Aufstieg und Fall des Dritten Reiches unter Hitler, den Wiederaufbau zweier deutscher Staaten und zuletzt die Wiedervereinigung Deutschlands. Trotz dieser unterschiedlichen äusseren Umstände gelang es ihr im seelischen Gleichgewicht zu bleiben und immer frohen Mutes zu sein.
 
Alices Wurzeln lagen im Erzgebirge, an der tschechischen Grenze, in dem Ort Deutschneudorf, wo ihr Vater Hans Hofmann (1896-1965) eine Werkstatt für Holzverarbeitung betrieb. Ihre Mutter Herta geb.Mann (1896-1979) war bekannt für ihre schöpferischen Handarbeiten, leitete den Haushalt und stickte ununterbrochen in ihrer Freizeit. Der Hausherr war zu Streichen aufgelegt und sehr humorvoll, Eigenschaften die Ali ererbte und damit auf unvergessliche Weise ihren Mitmenschen das Leben erleichterte. Ihre Schwester Rosemarie, 3 Jahre jünger, wohnt mit ihrem Mann Hans Ihle in Chemnitz, der Stadt, die zu DDR-Zeiten den Namen Karl-Marx -Stadt trug. Obwohl ungleich standen die Schwesten bis zuletzt in guter Verbindung miteinander.
 
Alice besuchte während des 2. Weltkrieges das Lehrerbildungsinstitut in Lichtenstein (Sachsen) und begann ihre Lehrertätigkeit gleich nach Kriegsende. In dieser Zeit lernte sie Dieter Weigelt kennen, mit dem sie bis 1960 verheiratet war. Beide versuchten,an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig angenommen zu werden. Dieter gelang es und  er wurde ein beliebter und erfolgreicher Arzt, aber Alices Antrag wurde abgelehnt, weil ihr Vater ein sogenannter Arbeitgeber war. Nach den damals in der DDR geltenden Richtlinien wurden Kinder von Arbeitern und Bauern bevorzugt an den Universitäten aufgenommen. Alice unternahm mehrere Versuche, ein Medizinstudium aufzunehmen, u.a. über den Umweg einer Krankenschwesterausbildung, aber ohne Erfolg. Sie wurde aber bald Lehrer und dann Schulleiterin der Medizinischen Fachschule Leipzig. Im Jahre 1959 erkrankte sie an Tuberkulose, zur gleichen Zeit wie meine Frau. Im Krankenzimmer der Universitätsklinik Leipzig lernten die beiden sich kennen und waren seit dieser Zeit durch eine tiefe Freundschaft verbunden,die durch nichts überschattet wurde.
Nach ihrer Genesung übernahm Alice die Leitung der Medizinischen Bildungsstätte, eine Einrichtung, die die Fortbildung des mittleren medizinischen Personales des Bezirkes Leipzig zur Aufgabe hatte. Also eine grosse Schule, ohne festangestellte Lehrer, ohne eigene Vorlesungsräume und mit Schülern unterschiedlichen Alters und Vorbildung. Ihr unheimliches Organisationstalent und ihr Charme ermöglichten es ihr diese Aufgabe bis zu ihrem Rentenalter mit Bravour zu lösen.  

Veränderungen traten ein im Privatleben, Dieter und Ali trennten sich und Rudolf Thiele, ein Kunsthistoriker, wurde ihr Gefährte. Rudolf war sehr begabt, ein guter Zeichner und Musikant, obwohl er nie Noten lesen lernte. Sie verbrachten viele erlebnisnisreiche Jahre zusammen und immer stand der Humor im Vordergrund. Christine besitzt viele Zeichnungen und Briefe aus dieser sehr schöpferischen Verbindung zweier Menschen. Alice hatte keine eigenen Kinder und hat dies immer sehr bedauert –  aber sie ist allen Kindern unvergesslich, angefangen bei unserem Kind und ebenso bei den Enkeln und Urenkeln in ihrem Bekanntenkreis.

Alice wohnte immer im Zentrum von Leipzig. Zuerst in der Stephanstrasse  in einem alten ehrwürdigem Haus, an dem allerdings der Zahn der Zeit genagt hatte.Aus dem grossen Wohnzimmer ging der Blick über das Johannistal und die Schrebergärten der Leipziger. An dem alten schönen Küchentisch wurde nicht nur gegessen, er war  mit der dazugehörigen Eckbank der Mittelpunkt des häuslichen Lebens. Dort wurden die lustigen Pläne ausgeheckt, die „abben“ Knöpfe angenäht, Zeichnungen gemacht, Briefe geschrieben, manchmal auch gleich die Tischplatte als Notizblock benutzt. Nicht zu vergessen die Mahlzeiten – Ali war ein hervorragender Koch und die Speisen nicht nur eine Gaumenfreude sondern auch eine Augenweide. Und Rotwein wurde getrunken und die Gläser erst aufgewaschen, wenn der Gläserchrank leer war. In den vergangenen 16 Jahren wohnte sie am Rossplatz, gegenüber dem Gewandhaus und in der Nähe der Oper. Die Innenstadt innerhalb des Ringes mit ihren bekannten Passagen war ihre Welt. Dort verkehrte sie fast täglich, immer elegant, der Mops Rosa oder dessen Vorgänger ihr Begleiter – die Geschäftsleute der Innenstadt werden sie vermissen, denn sie war ein gern gesehener Gast, immer zu einem Scherz aufgelegt. Alles wurde zu Fuss erledigt, auch wenn es mal in die ausserhalb des Zentrums gelegenen Viertel ging, der Hund konnte nicht Stassenbahn fahren!

Alice kam 1986 zum ersten Mal nach Island. Unvergesslich der Anblick: Ali im grauen Kostüm mit Hut, grauem Rucksack und einer Schärpe (selbstgefertigt) in den islandischen Fahnenfarben blau-weiss-rot! Es war ein grosser Augenblick für sie, den sie entsprechend inscenierte. Über die Jahre hatte sie viele Isländer in Leipzig kennen gelernt und bei sich als „Messegast“ aufgenommen. Sie war ein Islandfan und hat alles mitgemacht – Zeltreisen ins Hochland, Fischverarbeitung in Neskaupstad, Ausreiten mit dem Pferd Thytur von Skorrastad bis zum Schafabtrieb in Thykkvabæ im Herst 2007. Ihre erste Rolle war die des Trauzeugen unseres Sohnes Einar und seiner Frau Hildigunnur. Die Hochzeitsreies ging mit internationaler Gefolgschaft quer durch Island, u.a.zu den Kverkfjöll. Hildigunnurs Eltern Thoranna und Erlingur waren natürlich auch dabei und seitdem wurde der würdevolle Geschäftsleiter Erlingur „Elli min“ (meine Elly) genannt. Die meisten bekamen bei Ali einen neuen originellen Namen. – „Der Träumer“ und „Mister Fishey“ nur ein Beispiel, meine Frau „Didi“  keine Ausnahme, und das Postamt in Neskaupstad hatte sicher manchmal Schwierigkeiten mit der Postzustellung. Aus irgendendeinem Grund hat sie sich nicht an meinen schwierigen Namen gewagt, mich höchstens in der dritten Person mit „Der Herr“ angsprochen.

Die Islandreisen wurden fortgesetzt, dazwischen lagen Reisen in südlichere Gefilde, meistens mit Christine, aber auch anderen Isländerinnen. Der Bekanntenkreis nahm zu, nicht zuletzt die Eierkunden. Die Tochter des holzverarbeitenden Hans Hofmann und der Stickkünstlerin Herta verbrachte über Jahrzehnte ihre Freizeit mit Ostereiermalerei. Sie ist allen unvergesslich, die sie mit Farbtöpfen und Pinseln über ihren Eiern in den verschiedensten Fertigungsstadien sahen – „die Eierfrau“ wurde sie von denen genannt die ihren Namen nicht kannten. Die Eiermalerei ist eine alte Tradition im Böhmischen als auch in deutschen Gebieten, übrigens neben anderen eine weitere Gemeinsamkeit von Alice und Christine – sie wohnten als Kinder im südöstlichen Zipfel von Deutschland, an der Grenze zu Böhmen, weit entfernt von den Schlachtfeldern des Weltkrieges, als viele Städte des 1000 jährigen Reiches in Schutt und Asche fielen..
 
Wie schon erwähnt, hatte Alice eine starke persönliche Ausstrahlung und schauspielerisches Talent. Mir fällt manchmal Helene Weigel in der Rolle der Mutter Courage von Brecht ein,  wenn ich an Alis Weg durch den heißen und den kalten Krieg des 20. Jahrhunderts denke und ihrem Verhalten gegenüber  unerwarteten Ereignissen. Beide   durch Durchhaltevermögen und den Willen nicht aufzugeben ausgezeichnet. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass Ali ein Gefühl dafür hatte, wie der Gang des Lebens ist, während Mutter Courage ohne diese Kenntnis ihren Leidensweg durch den 30jährigen Krieg ging.

Vor einem reichlichen Jahr verbrachte Alice 4 Wochen bei uns  in Island. Keinem der sie sah, kam in den Sinn, dass es sich um eine Frau im 82. Lebensjahr handelte. In diesem Herbst waren wir in Böhmen und wollten auf dem Rückweg Alice Weigelt in Leipzig besuchen. In Prag erreichte uns die Nachricht von ihrem Tod.Wir änderten unseren Reiseplan nicht aber anstelle eines Wiedersehens mussten wir uns begnügen mit den Erinnerungen an eine schillernde und unvergessliche Frau, die ihre Spuren auf den Strassen und Plätzen dieser Stadt hinterlassen hat.

Hjörleifur Guttormsson, Reykjavík, 25. Oktober 2008, übersetzt von Christine Guttormsson

Hjörleifur Guttormsson


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